Freitag, 7. September 2012

Introducing: Das Wertequadrat

Der Hamburger Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun beschreibt in seinem Buch "Miteinander Reden, Band 2: Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation" (alle 3 Bände finde ich absolut lesens- und empfehlenswert mit 3 Sternchen, ich komme sicher nochmal darauf zurück) das sogenannte "Werte- und Entwicklungsquadrat", und ich möchte es gerne heute mal vorstellen, denn ich finde, dass es einem zum einen dabei helfen kann, sich so akzeptieren, wie man gerade ist, UND sich in eine Richtung weiterzuentwickeln, die einen zufriedener und ausgeglichener werden lässt.

Der Grundgedanke, der dahintersteckt, lautet, dass es per se keine negativen Eigenschaften gibt. Unangenehm werden sie für uns nur, wenn "zu viel des Guten", also zu viel einer Ausprägung vorhanden ist und zu wenig von ihrem (ebenfalls positiven) Gegenpol. Das Prinzip von Jin und Jang geht in eben diese Richtung. Balance und innere Ruhe entstehen dann, wenn beide positive Pole einer Eigenschaft für einen verfügbar sind und man zwischen ihnen hin- und her pendeln kann. In jedem Menschen sind beide Pole angelegt, oft ist es aber so, dass durch verschiedene Lebensumstände einer davon sich besonders gut ausgebildet hat, während der andere unterentwickelt geblieben ist. Das heißt aber nicht, dass sich dieser Teil nicht mehr entwickeln kann und man seinem Schicksal hilflos ausgeliefert ist. Wenn euch jemand sowas sagt ("Dir ist auch nicht mehr zu helfen.") - glaubt das bloß nicht! Glaubt lieber mir ;)

Ein Beispiel: Person F. ist ein Mensch, der oft Angst verspürt und sich entsprechend verhält. In vielen Situationen fühlt er sich angespannt, vermeidet viel, hält und zieht sich oft zurück. Irgendwann im Laufe seines Lebens wird dieses Verhalten ihm einmal notwendig und hilfreich erschienen sein, darum hat es sich entwickelt und über die Jahre verfestigt. Das ist sicher unangenehm für F., aber es ist weder dumm von ihm (sondern war damals sogar ziemlich klug!), noch ist F. als ganze Person ein Feigling (denn er kann in manchen Situation durchaus mutig auftreten)! F. reagiert einfach nur im Moment in vielen Situationen so. Punkt. Muss man gar nicht dran rumbewerten, das lähmt nur alle Beteiligten.

Nach Schulz von Thun steckt in jeder (in jeder!) Eigenschaft ein positiver Kern, den es zu bewahren gilt. Was ist der positive Kern der Angst? Die Vorsicht oder auch die Vorausschau. Es ist durchaus angemessen, sich der Gefahren einer Situation bewusst zu sein und entsprechend zu handeln. Es ist fürs Überleben z.B. äußerst sinnvoll, Angst zu bekommen und wegzurennen, wenn man sich plötzlich direkt vor einem heranrasenden Auto wiederfindet. Oder sich mit einem Seil zu sichern, bevor man an irgendwelchen Felsüberhängen herumklettert.



Angst ist also nichts grundsätzlich Verwerfliches oder Negatives, sondern ein zu viel der an sich positiven Vorsicht bzw. Vorausschau. Es geht also nicht darum, dass F. seine gesamte Angst ablegt, denn das würde bedeuten, von einem Extrem ins andere zu springen. Das Gegenteil von Angst wäre demnach Leichtsinn:



Man käme vom Regen in die Traufe. Von übergroßer Einschränkung zu fehlender Selbstkontrolle. Das kommt übrigens durchaus ab und zu mal vor, wenn man sehr lange in einem Extrem gelebt hat. Die Midlife-Crisis ist so eine Geschichte, wenn brave Familienväter sich plötzlich aufführen wie wildgewordene Teenager. Zu lange haben sie einseitig in der Rolle des braven, angepassten Erwachsenen gelebt und ihre ungestüme, kindliche Seite vernachlässigt. In Anbetracht der Endlichkeit des Lebens kippt das Verhalten auf einmal vom einen ins andere Extrem und die anderen fragen sich entsetzt, was in den Menschen gefahren ist. Auf der anderen Seite haben Menschen manchmal auch Bedenken, jemand ganz anderer zu werden oder werden zu *müssen*. Aber es geht darum, den positiven Kern zu bewahren UND zusätzlich den positiven Gegenpol auszubilden. Der positive Gegenpol wäre in diesem Falle Mut:


Und damit haben wir schon unser Wertequadrat:

Unten die negativen Extremausprägungen, "zu viel des Guten" (Angst und Leichtsinn), die isoliert auftreten, oben die positiven Ausprägungen, deren beider man sich zu bedienen lernen kann. Ausgehend von der Angst geht es darum, den positiven Kern (die Vorausschau) zu bewahren (grüner Pfeil) und gleichzeitig ihren positiven Gegenspieler (Mut) zu entwickeln (pinker Pfeil). Das klappt auch umgekehrt für jemanden, der eher leichtsinnig ist. Bei ihm würde das Entwicklungsquadrat so aussehen:

Den positiven Kern des Leichtsinns (Mut) bewahren (grüner Pfeil), den positiven Gegenpol (Vorausschau) entwickeln (pinker Pfeil) und dann situationsgerecht mal mehr von dem einen, mal mehr von dem anderen Gebrauch zu machen. Manche Situationen erfordern Mut, andere erfordern Bedacht. Beides ist sinnvoll. Jeder von uns kann zumindest den einen Teil schon mal besonders gut, wo andere eher Schwierigkeiten haben. Ich denke, das ist ganz wichtig: Egal, wie schlecht wir uns mit uns selber fühlen, wir haben auf alle Fälle schon mal 50% auf der Habenseite. Ängstliche Menschen stürzen nicht blindlings in ihr Verderben. Depressive Menschen überrumpeln ihre Umwelt nicht rücksichtslos mit ihren Ansprüchen. Cholerische Menschen fressen ihren Ärger nicht in sich rein. Das sind alles sehr sinnvolle Fähigkeiten, die diese Menschen im Schlaf beherrschen, wo andere sich sehr schwer tun! Keiner kann nichts und dümpelt bei 0 herum. Und die anderen 50% (meistens sind es auch deutlich weniger als 50%!), der andere Teil ist ebenfalls schon in uns angelegt, aber noch entwickelbar. Wie, darum geht es beim nächsten Mal :) (Cliffhanger, höhö (aber gut gesichert mit Seilen und Sicherheitsnetz!))

Dieses Wertequadrat kann man im Prinzip für jede Eigenschaft entwerfen, probiert es ruhig einmal aus. Es kann dabei helfen, sich selbst und andere besser zu verstehen, freundlicher und nachsichtiger mit sich und anderen zu sein, voneinander zu lernen, und auch eine Marschrichtung für die persönliche Weiterentwicklung zu entwerfen. Ich finde das super! :)

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